Friedrich Merz: Wenn das Stadtbild eher zu einem Standbild für Symbolpolitik wird
Friedrich Merz hat wieder einmal gesagt, was viele hören sollen, aber kaum jemand kritisch hinterfragt: Das Stadtbild habe sich verändert. Ein Satz, der harmlos klingt – aber ein politisches Weltbild offenbart. Denn wer vom „Stadtbild“ spricht, meint selten Architektur. Gemeint sind Gesichter, Sprachen, Kleidung – kurz: Menschen. Und wer so redet, will keine Lösungen, sondern Emotionen. Man baut sich künstliche Feindbilder auf und stärkt damit genau die Parteien, die längst gegen unsere demokratische Grundordnung arbeiten. Anstatt sich darum zu kümmern, was unsere Gesellschaft wirklich spaltet, werden wieder einmal die Falschen zum Problem erklärt.
Die eigentlichen Bruchstellen liegen ganz woanders: in der Steuervermeidung, bei den Reichen, die sich mit genug Einfluss aus jeder Verantwortung kaufen können. Klar, wir werden statistisch gesehen immer reicher – aber dieser Reichtum trifft nur wenige. Und obwohl offiziell behauptet wird, die Armut nehme ab, sind heute mehr Menschen betroffen als vor zwanzig Jahren. Das liegt an Statistiken, die sich schönrechnen, was man nicht sehen will. Drei Euro am Tag sollen angeblich reichen, um „nicht arm“ zu sein. Man darf kein Dach über dem Kopf haben, nichts besitzen und sich besser auch nicht zu viel bewegen – sonst verbraucht man zu viele Kalorien. Realistisch wäre wohl ein Wert von sechs Euro am Tag. Aber dieser Wert würde offenbaren, dass fast ein Drittel der Weltbevölkerung in Armut lebt. Und das will keiner sehen – schon gar nicht jene, die am meisten von diesem System profitieren.
Ein Stadtbild als Spiegel der eigenen Angst
Merz nutzt das Bild der Stadt, um eine diffuse Sehnsucht nach „Ordnung“ zu bedienen. Doch diese Ordnung ist nicht gesellschaftlich gedacht, sondern kulturell. Sie zielt auf Abgrenzung, nicht auf Zusammenhalt. Die CDU/CSU hat die Angst vor Veränderung längst als politisches Werkzeug entdeckt – und nutzt sie, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, wo Argumente fehlen. So lenkt man die Menschen ab, damit niemand merkt, dass es längst nicht mehr um Lösungen geht, sondern um Stimmung.
Dabei verschiebt sich die Debatte gefährlich. Weg von den echten Problemen, hin zur Symbolpolitik. Denn während Merz über das „Stadtbild“ redet, zeigen die Statistiken seit Jahren. Die größte Gefahr für Frauen geht nicht von Fremden aus, sondern aus dem eigenen Umfeld. Die meisten Frauen, die Opfer von Gewalt oder gar Tötungsdelikten werden, kennen ihre Täter – Partner, Ex-Partner, Familienmitglieder, Bekannte. Die Bedrohung sitzt also oft am Küchentisch, nicht im Asylheim.
Und wenn wir mal nur fünf Minuten ehrlich darüber nachdenken, dann müsste uns allen die kalte Suppe wieder hochkommen. Denn wir tragen selbst Verantwortung für vieles, was wir jetzt so gern auf „die Anderen“ schieben. Durch jahrzehntelange Ausbeutung der Ressourcen ärmerer Länder, durch unsere Handelsabkommen, durch unseren Lebensstil, der auf Kosten anderer funktioniert.
Wir haben ganze Regionen leergeplündert – Rohstoffe, Arbeitskraft, Zukunft. Wir haben Klimawandel, Dürre, Hunger und Perspektivlosigkeit mitverursacht. Und jetzt wundern wir uns, dass Menschen fliehen?
Wir reden von einer „Flüchtlingskrise“, obwohl es in Wahrheit eine Gerechtigkeitskrise ist. Eine Krise, die wir selbst geschaffen und dann exportiert haben – und deren Rechnung jetzt zu uns zurückkommt. Die Weltgesundheitsorganisation hat schon vor Jahrzehnten gewarnt: Ungleichheit, Umweltzerstörung und Ressourcenraubbau werden zu globalen Fluchtbewegungen führen. Das war kein Geheimnis, keine Überraschung, kein Zufall. Nur hat es niemanden interessiert – zumindest nicht jene, die politisch davon profitierten, nichts zu ändern.
Und jetzt stehen dieselben Leute, die jahrzehntelang auf Kosten anderer gelebt haben, mit hochgezogenen Augenbrauen da – überrascht, empört, überfordert. Allen voran die, die sich selbst als „bürgerlich“ bezeichnen, aber mit ihrer Rhetorik längst den Duktus der braunen Ecke übernommen haben. Sie spielen überrascht über die Folgen einer Politik, die sie selbst mitgetragen haben – und reden sich dann ein, das Problem käme von außen.
Heuchelei mit Tradition
Ironischerweise stammt die Partei, die heute groß „Sicherheit für Frauen“ auf ihre Wahlplakate druckt, aus einer politischen Tradition, die jahrzehntelang kein Problem mit Gewalt in der Ehe hatte. Na gut – sie wollen die Sicherheit für Frauen in den Städten erhöhen. Die AfD will Mädchen und Frauen schützen. Wahrscheinlich vor dem Herd. Oder damit der Täter es beim nächsten Mal nicht mehr so weit hat.
Bis 1997 galt Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland nicht als Straftat. Und wer versuchte diese Gesetzesänderung zu blockieren? CDU/CSU und die FDP. Im Bundestag stimmten damals 138 Abgeordnete der Union und FDP dagegen, 35 Stimmen enthielten sich. Die Begründung: Eine solche Regelung „zerstöre die Ehe“ oder sei „privat“. Mit anderen Worten: In den Augen der Union konnte es gar keine Vergewaltigung geben – weil Sexualität als eheliche Pflicht galt. Und jetzt steht Friedrich Merz da und redet von „Sicherheit auf den Straßen“. Dabei war es genau er und seine Partei, die jahrzehntelang dafür gesorgt hat, dass Frauen hinter verschlossenen Türen rechtlos waren.
Wer war eigentlich Teil dieser 138 Abgeordneten? Genau – Friedrich Merz und Horst Seehofer.
Instrumentalisierte Ängste
Nun also sollen „unsere Frauen und Töchter“ das Gefühl der Unsicherheit belegen. Ein kalkulierter Schachzug – reale Sorgen werden zu politischer Munition gemacht. Doch Merz redet über Frauen, nicht mit ihnen. Er redet über gefühlte Sicherheit, nicht über Ursachen und Fakten. Und er redet über Stadtbilder, nicht über Strukturen.
Diese Rhetorik hat mit Schutz nichts zu tun. Sie ist pure Instrumentalisierung. Und sie steht der AfD näher, als der CDU lieb sein dürfte. Wenn die sogenannte „bürgerliche Mitte“ beginnt, die Sprache der Rechten zu übernehmen, dann verwischt die Grenze zwischen konservativ und reaktionär – und das nicht zufällig, sondern mit voller Absicht. Die vielzitierte Brandmauer nach rechts? Sie wird nicht eingerissen – sie wird aktiv unterspült, jeden Tag, durch diese Rhetorik. Merz gießt das Fundament dafür mit jedem seiner wohlkalkulierten Worte.
Und eines sollte man auf gar keinen Fall tun: Friedrich Merz auffordern, zu konkretisieren, was er eigentlich gemeint hat. Denn dann würde nur noch deutlicher zutage treten, was ohnehin längst klar ist – zumindest für jene, die noch wach genug sind, zwischen den Zeilen zu lesen.
Das falsche Thema im Fokus
Während konservative Politiker die Bevölkerung mit der Angst vor „Bürgergeld-Totalverweigerern“ beschäftigen, zeigt die Realität ein völlig anderes Verhältnis: Der Schaden durch Bürgergeldbetrug lag laut ZDF-Faktencheck vom 7. Oktober 2025 bei rund 100 Millionen Euro. Der Schaden durch Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung liegt dagegen bei 70 bis 100 Milliarden Euro jährlich.
Und die Zahl der „Totalverweigerer“, also jener, die wiederholt jede Arbeit ablehnen, bewegt sich im zweistelligen Bereich. Trotzdem widmet sich die Politik lieber diesen 50 Fällen, statt den Milliardenverlusten durch Steuerflucht. Ein Staat, der jede Sozialleistung dreimal prüft, aber bei Briefkastenfirmen wegschaut, hat seine moralische Glaubwürdigkeit längst verloren.
Darauf angesprochen, wie viel durch diese Reform eigentlich eingespart werden soll, reagiert die CDU/CSU gern verschnupft. Hohle Phrasen werden heruntergebetet, als wäre das schon Politik. Nur: Diese Reform wird niemanden von der Straße holen – im Gegenteil, sie wird eher dafür sorgen, dass noch mehr Menschen dort landen. Aber das neue Stadtbild wird dann vielleicht wieder „aufgewertet“ – zumindest statistisch.
In einem Land wie unserem müsste eigentlich niemand ohne Wohnung leben. Es sei denn, er gehört zu den berüchtigten „50 Totalverweigerern“ – dann darf man ihn zum Symbol machen, um vom eigenen Versagen abzulenken.
Und während man nach unten tritt, kassieren andere weiter oben. Ich frage mich, wie viel Geld unsere Autokonzerne inzwischen an staatlichen Subventionen eingesammelt haben – und trotzdem den Umbau der Fahrzeugindustrie komplett verschlafen. Wie blind muss man eigentlich sein, um im größten Wachstumsmarkt der Welt, China, nicht zu bemerken, dass der Kunde längst mehr E-Mobilität will? Man hat das Geld genommen, aber die Zukunft liegen lassen. Das ist nicht Wirtschaftskompetenz – das ist Bequemlichkeit mit Dienstwagenprivileg.
Energiepolitik als soziale Trennlinie
Während Merz von „Leistungsgerechtigkeit“ redet, zementiert seine Partei die fossilen Strukturen der Vergangenheit. Die Union setzt auf Gaskraftwerke statt auf konsequenten Ausbau erneuerbarer Energien. Das ist keine Brückentechnologie, sondern eine Sackgasse – ökologisch, wirtschaftlich und sozial.
Die Folgen:
- Hohe Strompreise für Mieterinnen und Mieter.
- Langfristige Abhängigkeit von Importen.
- Subventionierte Gewinne für Energiekonzerne.
Wer Energiepolitik gegen die Zukunft betreibt, betreibt Klassenpolitik gegen die eigene Bevölkerung.
Anstatt dezentrale Lösungen, Bürgerenergie und Speicherprojekte zu fördern, werden fossile Infrastrukturen weiter konserviert. Das Ergebnis: Die Wohlhabenden kassieren die Förderungen, während die unteren Einkommensschichten am Ende die Zeche zahlen. Und dann – völlig überrascht – fragt man sich wieder, warum „der Pöbel“ die AfD wählt. Als wäre das irgendein unbegreifliches Phänomen, und nicht die logische Folge jahrzehntelanger Ignoranz gegenüber sozialer Realität.
Nur wird das Erwachen bitter. Denn wie in England und den USA wird auch hier irgendwann das böse Staunen einsetzen – wenn der Teil der Bevölkerung, der sich im Zorn an die Falschen klammert, merkt, dass es für ihn noch schlechter läuft als zuvor. Aber bis dahin wird weiter gepredigt, weiter gelogen und weiter auf Zeit gespielt – Hauptsache, die Profite laufen, solange es noch geht.
Ein Standbild für Stillstand
Das Stadtbild, das Merz beklagt, ist in Wahrheit das Standbild seiner eigenen Politik: Stillstand, Ideenlos, Symbolpolitik und ein Blick zurück in eine Welt, die es so nie gab. Deutschland verändert sich – das tut es seit jeher. Migration, Globalisierung, technischer Fortschritt, gesellschaftlicher Wandel. Die Aufgabe der Politik wäre es, diesen Wandel zu gestalten – nicht, ihn zu dämonisieren.
Wer wirklich über Sicherheit, Ordnung und Werte reden will, sollte endlich beginnen, sie zu leben. Aber als ehemaliges BlackRock-Mitglied weiß man wohl: Nirgends macht man bessere Geschäfte, als in der Krise.
