Habe einen Beitrag zur Critical Mass (CM) in Berlin gefunden, beziehungsweise wurde ich während der letzten CM von Mitfahrenden darauf aufmerksam gemacht, dass sich der rbb mit diesem Thema beschäftigt hat (Artikel hier). Natürlich bewegen wir uns bei der CM nicht immer vollständig auf der Grundlage von § 27 StVO, besonders was die Kennzeichnung des Verbundes angeht. Trotzdem finde ich es notwendig, hier einmal genauer auf die rechtlichen Grundlagen einzugehen, vor allem, weil immer wieder Meinungen aufkommen, die so nicht ganz stimmen.
Das Wichtigste zuerst: Was regelt § 27 StVO?
§ 27 der Straßenverkehrsordnung erlaubt geschlossene Verbände, also Gruppen von mehr als 15 Radfahrenden, bestimmte Sonderrechte. Die wichtigsten Punkte dabei sind:
- Der Verband darf zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn fahren, auch wenn ein Radweg vorhanden ist.
- Der Verband wird wie ein einziges Fahrzeug behandelt. Das bedeutet: Wenn der erste Teil des Verbandes bei Grün über eine Ampel fährt, dürfen alle folgen, selbst wenn die Ampel währenddessen auf Rot springt.
- Es gibt keine ausdrückliche Verpflichtung, Lücken zu lassen, damit andere Verkehrsteilnehmer queren können. Der Verband soll jedoch „in angemessenen Abständen Zwischenräume für den übrigen Verkehr frei lassen“, wenn seine Länge dies erfordert (§ 27 Abs. 2 StVO). Diese Regel dürfte jedoch vor allem für außerorts fahrende Verbände gedacht sein, um Überholmöglichkeiten auf Landstraßen zu schaffen – innerorts ist das wegen der kürzeren Abstände zwischen Kreuzungen und Einmündungen oft gar nicht praktikabel.
Und was ist mit Überholmöglichkeiten innerorts?
Ein häufiger Vorwurf ist, dass die CM den Autoverkehr blockiert oder „nötigt“, wie es manche Kritiker nennen. Besonders oft wird gesagt, dass lange Verbände „Lücken lassen müssen“, damit Autos durchkommen können. Doch innerorts, wo der Verkehr dichter ist und häufig Ampeln oder Kreuzungen den Verkehrsfluss ohnehin regulieren, ist es weder praktikabel noch vorgeschrieben, solche Zwischenräume gezielt zu schaffen. Stattdessen sorgt die Regelung vor allem außerorts für Klarheit, wo längere Überholmöglichkeiten notwendig sein könnten.
Die gesamte Fahrtrichtung nutzen – macht das Sinn?
Ab einer gewissen Größe des Verbandes kann es durchaus sinnvoll sein, die gesamte Fahrtrichtung zu nutzen. Wenn der Verband nämlich nur in Zweierreihe nebeneinander fährt, kann er eine enorme Länge erreichen, die den Verkehr womöglich stärker beeinträchtigt als ein breiterer, kompakterer Verband. Ein solches Vorgehen hat sich bei der Critical Mass in Berlin in der Praxis bewährt. Und das bisherige Verhalten der Polizei legt nahe, dass dieser Standpunkt akzeptiert wird. Die Polizei greift in der Regel nicht ein, wenn der Verband die komplette Fahrbahnbreite einnimmt, was diesen Ansatz als pragmatisch und verkehrssicher erscheinen lässt.
Und was ist mit kleineren Verbänden, wie in Potsdam?
Anders sieht es bei kleineren Verbänden aus, wie sie beispielsweise bei der Critical Mass in Potsdam vorkommen. Hier ist die Teilnehmerzahl meist überschaubar, sodass der Verband in der Regel keine gesamte Fahrtrichtung nutzen muss. Stattdessen ist es notwendig und sinnvoll, sich auf eine Fahrspur zu beschränken und in Zweierreihen nebeneinander zu fahren. Dies sorgt dafür, dass der Verband kompakt bleibt und andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere Autofahrer, nicht übermäßig behindert werden. Auch hier gilt: Der Verband darf sich gemäß § 27 StVO wie ein einzelnes Fahrzeug verhalten, was bedeutet, dass er Ampeln oder Kreuzungen als geschlossene Einheit passiert. Durch die geringere Größe dieser Verbände bleibt der Verkehrsfluss jedoch insgesamt besser erhalten, und Konflikte werden minimiert.
Dieses Verhalten zeigt, dass Critical Mass nicht darauf aus ist, grundlos zu provozieren, sondern sich an die Gegebenheiten der jeweiligen Stadt anpasst. Wo es sinnvoll ist, wird Rücksicht auf den übrigen Verkehr genommen, ohne die Rechte der Radfahrenden aus den Augen zu verlieren.
Vorbildlich: Schnelle Bildung von Rettungsgassen
Ein weiterer Punkt, der oft übersehen wird, ist das Verhalten der Teilnehmenden der CM in Notsituationen. Obwohl wir bei der Critical Mass teilweise mit tausenden Teilnehmenden unterwegs sind, wird innerhalb von Sekunden eine Rettungsgasse für Einsatzfahrzeuge gebildet. Das schnelle Handeln der Radfahrenden ist bemerkenswert und zeigt, dass hier Verantwortung und Rücksichtnahme großgeschrieben werden. Leider sieht man dieses Verhalten bei Kraftfahrzeugführern, gerade in Staus, eher selten. Solche Beispiele widerlegen das oft geäußerte Vorurteil, dass die CM nur eine „chaotische Blockade“ sei.
Leider gibt es auch Schattenseiten
So friedlich und positiv der Grundgedanke der Critical Mass auch ist, gibt es immer wieder Vorfälle, die zeigen, dass nicht alle Verkehrsteilnehmer die CM als berechtigten Ausdruck für bessere Verkehrspolitik sehen. Immer wieder kommt es vor, dass Verkehrsteilnehmer aggressiv reagieren: Teilnehmende die den Verband schützen werden angefahren, beleidigt oder sogar angespuckt. Solche Vorfälle sind in Berlin kein Einzelfall und zeigen, wie emotional das Thema Mobilität und Verkehr immer noch diskutiert wird. Mittlerweile haben wir, als Teilnehmende der CM, diese ungehaltene Minderheit sehr gut im Griff und unterstützen die Korker schnellstmöglich mit zusätzlichen Anwesenden.
Auch die Polizei ist nicht immer nur der neutrale Vermittler. Es gibt Berichte aus anderen Städten, wo Teilnehmenden die Luft aus den Reifen gelassen wurde, um angeblich eine „Störung des Verkehrsflusses“ zu verhindern. Solche Aktionen wurden teilweise sogar von der Presse aufgegriffen und werfen ein schlechtes Licht auf das eigentlich neutrale Bild, das man von der Polizei erwarten sollte. In Berlin hält sich die Polizei jedoch meist zurück und unterstützt den Verband bei der sicheren Durchführung der CM, was positiv hervorzuheben ist.
Was bedeutet das für die CM?
Natürlich ist die CM keine typische Verbandsfahrt, wie sie etwa bei der Feuerwehr oder bei Marschgruppen vorkommt. Viele CM-Fahrende tragen keine Warnwesten oder haben keine spezielle Kennzeichnung, wie es § 27 StVO eigentlich vorsieht. Das bewegt uns rechtlich in einer Grauzone. Trotzdem finde ich, dass die CM eine wichtige Funktion hat: Sie macht die Rechte der Radfahrenden sichtbar und zeigt, dass Fahrräder im Straßenverkehr genauso viel Platz verdienen wie Autos. Es geht nicht darum, Autofahrer zu provozieren, sondern darum, Aufmerksamkeit für eine nachhaltige Verkehrspolitik zu schaffen.
Ein bisschen mehr Respekt, bitte
Was mich an der Diskussion oft stört, ist der einseitige Fokus auf die vermeintliche „Blockade“ durch die CM. Fakt ist: Der Autoverkehr behindert täglich andere Verkehrsteilnehmer, sei es durch Staus, Falschparker oder Umweltbelastungen. Und trotzdem gibt es dafür keine vergleichbare Empörung. Die CM ist einmal im Monat, für ein paar Stunden. Ich finde, das kann der Autoverkehr verschmerzen.
Wie steht ihr zu dem Thema? Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht, oder seht ihr die Sache ganz anders? Ich freue mich über eure Kommentare!
Hinweis: Keine Rechtsberatung
Auch wenn ich nicht glaube, dass dieser Beitrag so betrachtet werden kann, so möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass ich kein Anwalt bin und die Gesetze nach meiner eigenen Auffassung interpretiere. Die hier dargestellten Ansichten basieren auf meinen persönlichen Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit dem Thema. Wer rechtlich sicher gehen möchte, sollte sich an einen Experten oder Anwalt wenden.